Der Geronto-Sozialtherapeut Wolfgang Kramer plädiert dafür, das Altern und Alter nicht nur als defizitäre Lebensphase anzusehen.

5:19 min | 11.7. | 16.05 Uhr | © SWR2, 11.7.2016, 14.04 Uhr von Detlef Berentzen

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Ready, Steady, GO!!!. Foto von David Hodgson, 2012. (cc)-Lizenz: Flickr.com


Beschreibung - Rundfunkessay: Fluch oder Segen: Wie umgehen mit dem Altern?

Das Älterwerden ist keineswegs identisch mit einem Abbauprozess, sondern ist ein durchaus mehrdimensionales Geschehen, das von biologischen, soziologischen, ökonomischen, anthropologischen und psychologischen Faktoren bestimmt wird. Dies bedeutet, dass der alte Mensch keineswegs bloß ein Spielball seiner äußeren Lebensumstände oder biografischen Erfahrungen ist, sondern dass er durchaus die Möglichkeit hat, seinen Altersprozess aktiv mitzugestalten.

Zwar können sich körperlich durchaus Verluste einstellen, was nicht ausschließt, dass sich auf der seelischen Ebene zugleich ein Wachstum vollzieht. Altern kann mit einer Verminderung von sozialen Rollen (im Berufsleben, in der Familie), mit einer Verminderung von Leistungen in verschiedenen Funktionsbereichen (Kurzzeitgedächtnis), oder mit der Einschränkung von individuellen Kompetenzen (Mobilität, selbständige Lebensführung) einhergehen; ebenso kann es aber auch zur Kompensation von Verlusten, zu Kompetenzerweiterung oder zum Wachstum der Persönlichkeit kommen.

Aber selbst dort, wo sich irreversible Verluste einstellen, ist es immer noch die Frage, wie der ältere und alte Mensch mit diesen Verlusten umzugehen vermag, inwieweit er Einschränkungen anzunehmen, zu verarbeiten und die noch verbliebenen Möglichkeiten zu nutzen in der Lage ist. Bei gehäuften Verlusten, einem geschwächten Ich und fehlender Unterstützung im sozialen Umfeld ist die Verarbeitung und die dazu zu leistende Trauerarbeit erschwert oder unmöglich, und es kann zu einer psychischen Krise kommen. Menschen, die im Laufe ihres Lebens ihre physischen und sozialen Verluste nicht verleugnet haben, werden auch im hohen Alter mit großer Wahrscheinlichkeit anhand der erlernten Lebensstrategien ihre Verlusterfahrungen bewältigen können. Sie werden sich auch bei großen körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen ihre soziale Kompetenz bewahren. Entscheidend hierzu ist, inwieweit sie sich in ihrem Leben interessiert, offen und flexibel verhielten. Die offenen Menschen leben in einer Beweglichkeit, in einem ständigen Training, so dass ihnen eine Veränderung leichter fällt als jenen, die ihre festen Richtlinien und Prinzipien haben, die sie ihr Leben nicht verändern lässt. Es geht hierbei auch um die Fähigkeit des Loslassens, z.B. bestimmte Tätigkeiten, Kompetenzen, Bindungen, auch Besitz.

In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass das höhere Erwachsenenalter von vorhergehenden Lebensphasen nicht getrennt werden kann. Der im Jahre 2004 im Alter von 94 Jahren verstorbene italienische Philosoph Norberto Bobbio hat darauf hingewiesen, dass das Alter als Lebensphase nur dann wirklich verstanden werden kann, wenn es als Teil des gesamten Lebenslaufs, gewissermaßen als „Ergebnis des gelebten Lebens“ gesehen wird: „Das Alter ist nicht vom vorhergehenden, übrigen Leben geschieden: es ist die Fortsetzung deiner Jugend, deiner Jahre als junger Mensch, deiner Reifezeit.“ (Norberto Bobbio, Vom Alter – De senectute, Berlin 1997 (italienisch 1996, S. 36 f.)

Die Berücksichtigung dieser biografischen Dimension lässt viele subjektive Einstellungen, Erlebens- und Verhaltensweisen und Konflikte älterer Menschen als Reaktion auf bestimmte lebensgeschichtliche Erfahrungen verständlich werden. Diese Tatsache unterstreicht, wie wichtig es in der Pflege und Betreuung von alten Menschen ist, über deren Biografie möglichst gut Bescheid zu wissen.

Das Alter ist so gesehen nicht nur mit Verlusterfahrungen verbunden, sondern der alte Mensch besitzt durchaus auch Ressourcen. Gerade weil bei ihm alles langsamer geht, ist er in der Lage, die Dinge genauer und tiefer zu schauen, zu reflektieren und zu diskutieren. Er besitzt Zeit, eine in unserer Gesellschaft immer knapper werdende Ressource, Zeit zum Lesen, Zeit für sein Tun, sein Denken und sein Erinnern, um auf diese Weise zu wachsen und zu reifen. Norberto Bobbio hat in seiner bereits erwähnten Schrift geltend gemacht, dass der Mensch nicht nur dasjenige ist, was er gedacht, geliebt und vollbracht hat, sondern vor allem auch dasjenige, was er zu erinnern vermag. Größe und Macht der Erinnerung besteht darin, dass diese im Verlauf eines Lebens einen Schatz aufbaut, der für den betroffenen Menschen einen unvergleichlichen Reichtum darstellt.
Die Erinnerung besitzt geradezu identitätsbildende Qualitäten, sie ist die Basis für die Selbstfindung des alten Menschen. Die nicht ausgelöschten Erinnerungen sind die Reichtümer, auf die er bauen kann. Erinnern ist zugleich eine geistige Tätigkeit, „die du oft scheust, weil sie mühevoll oder peinlich ist. Doch es ist eine heilsame Tätigkeit. In der Erinnerung findest du trotz all der vielen Jahre, die du gelebt, trotz der unzähligen Ereignisse, die du erlebt hast, dich selber wieder, deine Identität.“ (Ebenda, S. 38)

Für den alten Menschen ist es deshalb nicht mehr prioritär die Zukunft, sondern wesentlich die Vergangenheit, die ihm seine Identitätsfindung ermöglicht. Der aufmerksame Umgang mit der immer kürzer werdenden noch verbleibenden Zeit wird für ihn umso dringlicher. Diese Lebensaufmerksamkeit bewahrt vor einem ausschließlich nach außen sich zerstreuenden Leben, macht das Leben tiefer und kann so auch im Alter Lebenszufriedenheit ermöglichen.

 

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