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Hier finden Sie den Vortragstext, den ich Ihnen in meiner Veranstaltung empfohlen hatte:

Philosophieren, - so beschreibt es der französische Philosoph Michel de Montaigne im Jahre 1580 - heiße, sich mit dem Tod beschäftigen, sich auf den Tod vorbereiten, Selbstbesinnung angesichts des Sterbenmüssens.
Eine solche Definition der Philosophie mag auf den ersten Blick als lebensfeindlich erscheinen. Deshalb steht diesem Satz seit jeher auch jener andere gegenüber: "Philosophieren heißt leben lernen".

Der Widerspruch zwischen beiden Aussagen ist nur scheinbar: der zweite Satz wiederholt einfach in anderen Worten, was der erste besagt. In diesem Sinne stellt Montaigne ebenso wie bereits gut 1500 Jahre vor ihm der römische Philosoph und Staatsmann Seneca fest: "Wer die Menschen sterben lehrte, der würde sie zugleich auch leben lehren".
Beide Aussagen wollen dasselbe zum Ausdruck bringen, nämlich folgendes:
Erst durch das Todesbewusstsein lässt sich jenes Lebensbewusstsein realisieren, das aus den Routinen und Mechanismen des Alltags befreit und das dem Leben eine neue Qualität verleiht, eine tiefere Dimension, einen größeren Ernst. Auf diese Weise gewinnt das Leben an Intensität und Gehalt. Der Tod wird so zur entscheidenden Wirklichkeit im Leben der Menschen, denn es ist das Endlichkeitsbewusstsein, das uns das Gefühl des Lebendigseins vermittelt.
In einer modernen, zeitgemäßeren Terminologie ausgedrückt besagen solche Sätze: Nur über den Weg einer existentiellen Auseinandersetzung mit dem Todesproblem ist persönliche Selbstverwirklichung und Selbstsein möglich.

"Philosophieren heißt Sterben lernen" ist deshalb nicht als eine düstere Todessehnsucht zu verstehen, sondern in diesem Diktum artikuliert sich eine realistische und nachdenkliche Bereitschaft, uns mitten im Leben mit dem Unvermeidlichen abzufinden, um auf diese Weise frei von Furcht und Sorge zum richtigen Umgang der eigenen kurzen Lebenszeit und zur angemessenen Form der Rücksicht auf das kostbare Leben der anderen zu nehmen.